Die Geschichte von Gefühlistan, Schuldistan und seinen Bewohnern

Gefühlistan: Das Land hinter den Bergen

Gefühlistan ist ein wunderbares Land. Es liegt oben in einem Gebirge in einem Hochtal. Die Ebene von Bedürfnien ist grün und fruchtbar, in der Mitte befindet sich ein See, an dessen Ufer sich die Hauptstadt Connexion befindet. Die Ebene von Bedürfnien ist umschlossen von den Bergen der Fühlischen Schweiz.
Die Berge der Fühlischen Schweiz erheben sich rechts und links von der Ebene von Bedürfnien und gleichen sich rechts und links von der Ebene so sehr, dass sie auch dieselben Namen tragen: die große, breite Freudekuppe, der Piz Schmerz, daneben der Mt. Pavor mit schwindelerregenden Steilwänden, gefolgt vom vergletscherten Hohe-Trauern-Massiv. Den Abschluss der Bergkette bildet auf beiden Seiten des Tales der Vulkan Wutaskjöll.

Die Berge der Fühlischen Schweiz, die Bedürfnien umschließen, liefern wertvolle Erträge:
An den Hängen des Piz Schmerz werden scharfe Chilischoten geerntet, die jedem Essen eine gute pikante Würze geben.
Am Fuße des Mt. Pavor sammeln sich die Bäche zu Seen, in denen Zitteraale leben. Wenn sie Angst bekommen, versuchen sie, durch elektrische Stromschläge ihre Feinde auf Abstand zu halten. Die Bewohner von Gefühlistan kultivieren die ängstlichen Zitteraale und halten sie in großen Teichen. Ihre elektrischen Stromschläge werden zur Energieversorgung für die Hauptstadt Connexion genutzt.
Unterhalb der Gletscher des Hohe-Trauern-Massivs wachsen dichte Wälder aus Trauerweiden. Die elastischen Weidenruten werden zum Flechten von Körben genutzt.
Die fruchtbaren Hänge des Wutvulkans Wutaskjöll sind die Weidegründe der Wutpferde. Die stärksten und besten von ihnen werden von den Bewohnern von Bedürfnien aus den wilden Herden genommen und gezähmt. Sie sind wertvolle Arbeitstiere für die Bedürfnier und werden von ihnen in hohen Ehren gehalten.

Schuldistan: Das geteilte Land, das nichts von seiner Teilung weiß

Hinter den Bergen der Fühlischen Schweiz rechts und links der Ebene von Bedürfnien beginnt auf beiden Seiten das Land Schuldistan. Die Grenzlinien verlaufen auf dem Kamm der Berge der Fühlischen Schweiz. Egal auf welcher Seite man Gefühlistan verlässt, man kommt nach Schuldistan, allerdings in unterschiedliche Landesteile, je nachdem, ob man Gefühlistan auf der einen oder anderen Seite verlässt.
Schuldistan besteht aus zwei Landesteilen: Fremdschuldistan mit der Hauptstadt Opfer-City. Selbstschuldistan mit dem Hauptort Heilbad Bad Täterow. Da die Berge der Fühlischen Schweiz von Opfer-City oder Bad Täterow aus gesehen sich gleichen, ahnen die Bewohner von Schuldistan nicht, dass zwischen ihnen das wunderbare Land Gefühlistan liegt. Beide Landesteile von Schuldistan sind mit einem Tunnel unter dem großen Bergmassiv, in dessen Hochtal Gefühlistan liegt, verbunden.

Fremdschuldistan: Das Land der Opfer

Opfer-City, die Hauptstadt von Fremdschuldistan, liegt unter einer Smogdecke, die den Blick auf die Berge Tag und Nacht abschirmt. Und wenn die Wolkendecke doch einmal zerreißt und den Blick auf die Berge freigibt, erscheinen sie kalt und abweisend. Die Bewohner von Schuldistan und Opfer-City ahnen nicht, dass dieselben Berge auf der Seite von Gefühlistan zum Reichtum und Wohlergehen der Bewohner von Bedürfnien beitragen.
Die Bewohner von Fremdschuldistan, die Fremdschuldistaner, haben früher die Wälder auf den Bergen gerodet und nun liegen die die Felsen der Berge frei und sind dem Wetter ausgesetzt. Immer wieder werden die Bewohner von Fremdschuldistan von gefährlichen Steinen bedroht, die von den Bergen hinabrollen. Sie schließen sich zusammen, um diese Steine zu entsorgen. Da sie jedoch keinen Platz haben, diese Steine abzulagern, haben sich die Bewohner von Fremdschuldistan entschlossen, die Steine außer Landes zu bringen. Dazu betreiben sie intensiven Bergbau, um an Rohstoffe, Metalle zu kommen und bohren nach Öl, um Treibstoffe herzustellen. Damit bauen Sie große Raketen, die mit den Steinen befüllt werden und vom Marktplatz von Opfer-City aus abgeschossen werden. Die Bewohner von Opfer-City wissen nicht, dass durch den Bergbau und die Raketen gerade der Smog entsteht, der ihnen die Sicht auf die Berge und den Himmel raubt, ihnen gute Luft verpestet und der auch noch so sauer ist, dass das Gebirge, an dessen Fuße Opfer-City liegt, immer weiter angegriffen wird, zersetzt wird und sich immer neue Steine aus dem Gebirge lösen und auf Opfer-City niedergehen.

Die Empörungsraketen von Opfer-City

Jeder Abschuss einer Entsorgungsrakete wird mit einem Empörungsfest gefeiert. Die Mehrheit der Fremdschuldistaner ist sich einig, Opfer zu sein von den üblen Machenschaften anderer Menschen und dass man daher das Recht habe, sich dieser Steine durch die Raketen zu entledigen. Man weiß schon, dass die Steine irgendwo niedergehen, aber da die Bewohner von Opfer City der Überzeugung sind, dass die ganze Welt gegen sie ist, sind sie sich sicher, dass die Raketen schon die Richtigen treffen werden.
Manche Bewohner haben jedoch nach einem erneuten Abschuss einer Entsorgungsrakete Schuldgefühle, da sie entweder nicht wissen, wen es treffen wird oder sie sich ein bisschen den Schrecken ausmalen, der entsteht, wenn die Steine vom Himmel fallen. Für manche sind die Schuldgefühle sehr schmerzhaft und werden zum Anlass, so bald wie möglich zum nächsten Empörungsfest zu gehen und sich in einem Demonstrationszug mit allen anderen gemeinsam zu versichern, das Recht zu haben, die Steine wegzuschießen. Doch manchmal hilft auch der Besuch eines Empörungsfestes und eine Demonstration nicht und das Schuldgefühl quält die Menschen weiter.

Der Tunnel zwischen Fremdschuldistan und Selbstschuldistan

Am Berghang direkt hinter Opfer City befindet sich eine Tunnelöffnung. Die Bewohner von Opfer City haben gehört, dass auf der anderen Seite des Tunnels ein Ort wäre, an dem man sich von den Qualen der Schuldgefühle befreien könne.

Wenn sie von Schmerzen oder dem schlechten Gewissen zu sehr gequält werden, pilgern sie durch den langen Tunnel, der das Gebirge unterquert, nach Bad Täterow. Dass sie dabei unter Gefühlistan hindurch gehen, ahnen sie nicht.

Selbstschuldistan: Das Land derjenigen, die sich ihre Misere selbst eingebrockt haben

Heilbad Bad Täterow! In Selbstschuldistan fallen immer wieder Steine aus den Vorwurfsraketen aus Fremdschuldistan vom Himmel. Auf ihrer Reise durch die Erdatmosphäre heizen sie sich mächtig auf und fallen als glühende Brocken vom Himmel. Die Bewohner von Selbstschuldistan ahnen nicht, dass diese Steine aus Fremdschuldistan stammen. Da sie sich selbst als derartig schlecht und schuldig betrachten, deuten sie diese Steine als gerechte Bestrafung, die ihnen der Himmel schickt. Die Selbstschuldistaner steigen in Schutzanzüge und sammeln die heißen Steine auf. Mit speziellen Tragegestellen, die den Träger vor der Hitze schützen, werden die glühenden Brocken eilends zu Tale getragen. In den Niederungen rund um Bad Täterow wird das Wasser, welches vom Gebirge in schäumenden Bächen stürzt, aufgefangen und in Teiche geleitet. In diese Teiche werden nun die glühenden Vorwurfsteine versenkt. Dabei heizen sich die Teiche stark auf.
In dieses brühend heiße Wasser legen sich die Kurgäste von Bad Täterow hinein, in der Hoffnung, ihre Schuldgefühle und Schmerzen am Herzen zu verlieren. Für Wochen blieben sie in Bad Täterow. Nach dieser Kur kehren sie durch den Tunnel zurück nach Opfer City, nur um bald wieder zurückzukommen nach Bad Täterow.

Das Leben im Tunnel

Manche Bewohner von Schuldistan haben keine Lust mehr, in Opfer-City oder Bad Täterow zu wohnen. Sie sind es leid, andere zu beschuldigen oder sich als Ursache der Misere zu verstehen. Ein „Mittelweg“ wäre gut. Sie entschließen sich, in den Tunnel, der beide Landesteile verbindet, umzuziehen. Sie richten sich in der Mitte des Tunnels ein und leben dort in kleinen Nischen. Im schwachen Schein von Taschenlampen studieren Sie die Richtlinien des „Bundesamtes für anständige Lebensführung“ und halten sich peinlich genau an diese Vorschriften, um ja keine Fehler zu machen. Alles richtig zu machen ist der perfekte Schutz, sich nicht mehr schuldig fühlen zu müssen und wenn sich alle an die Regeln halten, muss man auch keinem mehr einen Vorwurf machen. Gefühle fühlen sie schon lange nicht mehr. Ihnen reicht es zu wissen, dass sie es „richtig“ machen. Sie trinken das Wasser, das aus dem Berg sickert. Sie ahnen nicht, dass dies aus dem großen See von Gefühlistan stammt. Sie ernähren sich von Almosen, die ihnen die Reisenden zwischen Opfer City und Bad Täterow überlassen.

Himmelssteine über Gefühlistan

Wenn wieder mal eine Rakete von Opfer-City abgefeuert wird und ihre Last über Gefühlistan ausschüttet, dann fallen auch dort Steine vom Himmel.
Immer wieder finden die Bedürfnier – die Bewohner von Gefühlistan – diese großen und kleinen Steine, die es vorher noch nicht gegeben hat. Sie scheinen vom Himmel gefallen zu sein. Die Bedürfnier nennen sie „Himmelssteine“. Sie betreiben keine Herkunftsforschung oder versuchen gar diese Steine loszuwerden: Die Bedürfnier sammeln die Himmelssteine auf, legen sie in Weidekörbe, geflochten aus Ruten der Weiden vom Hohe-Trauern-Massiv. Mit den Körben werden die Wutpferde beladen. Dann ziehen Karawanen von Pferden die Berge hinauf: Am Piz Schmerz werden aus den Steinen Terrassierungen gebaut, damit wieder neue Felder entstehen können, auf denen die berühmten Chilischoten wachsen können. Am Mt. Pavor entstehen durch die Steine kleine Staumauern und neue Bassins, um die Zitteraale gesund halten zu können und damit die Energieversorgung von Connexion zu sichern. Am Massiv der Hohen Trauern werden mit den Himmelssteinen Wege befestigt, um sicherer zu den Weide-Bäumen zu kommen und die Ernte von Ruten und Zweigen sicher ins Tal bringen zu können. Am Vulkan Wutaskjöll werden aus den Steinen Schutzmauern gegen den scharfen Wind errichtet und Bachläufe gesichert, sodass die Herden der Wutpferde gut versorgt und gesichert sind. Auf den Freudehügeln dienen die Steine als Straßenbaumaterial und als Unterbau für Campingplätze und Liegewiesen.

Der Weg von Fremdschuldistan nach Gefühlistan

Die Bewohner von Gefühlistan und von Schuldistan haben wenig Kontakt, obwohl Gefühlistan im Hochtal nur durch die Bergketten der Fühlischen Schweiz von Schuldistan mit seinen beiden Landesteilen getrennt ist. Es gibt wenig Besuch und Austausch.
Aber es gibt ab und zu doch Menschen, die sich auf den Weg von Schuldistan auf ins Gebirge nach Bedürfnien machen. Für die Menschen aus Opfer-City gibt es verschiedene Aufstiegsrouten: Am Piz Schmerz vorbei, unterhalb der Felsabstürze des Mt. Pavor auf einem angsterregenden, geschlängelten Pfad am Abgrund vorbei, über das Massiv der Hohen Trauern mit den reißenden Tränenbächen, an den Hängen des Vulkans Wutaskjöll verlaufen die Wege auf heißem Boden, aber auch über die Freudekuppe führen die Routen nach Gefühlistan.

Die Seilschaften im Gebirge

Wenn sie sich nun entschlossen haben, den Weg in die Berge zu gehen, dann können sie das nicht allein tun: Man muss immer mindestens zu zweit den Aufstieg bewältigen. Es braucht für die Höhenwege immer mehrere Menschen, die sich gegenseitig sichern. Immer wieder steigt einer voran, weiter hinauf in die Berge. Da ist es wichtig, von einem Begleiter gut gesichert zu werden. Ist der Vorsteiger an einem guten Punkt angekommen, dann steigt der Kamerad nach und geht nun selbst ein Stück voraus.
Die Bewohner von Opfercity kommen dabei sehr ins Schnaufen und sie bekommen immer weniger Luft, je weiter sie aufsteigen. Als Bewohner von Fremdschuldistan sind sie es gewöhnt, beim Ausatmen zu stöhnen und Vorwürfe auszustoßen. Je weiter die Menschen aus dem Tal zu den Berggipfeln kommen, desto stärker werden die Vorwürfe, die sie von sich geben: Unten im Tal war es noch pauschal die „ganze Welt“, die ihnen Böses wollte, ein Stück weiter oben wird es schon konkreter: „Diese Männer…“ oder „Diese Frauen…“ oder „Diese Leute von dort…“. Näheren sie sich dem Bergkamm, dann wird aus dem „Die da..“ ein „Du!“. Nehmen sie die Route über den Piz Schmerz, so schreien sie laut: „Du tust mir weh!“. Auf der Route beim Mt. Pavor sind die Rufe und Schreie: „Du machst mir Angst“ weit zu hören. Am Massiv der Hohen Trauern hört man lautes Klagen: „Du hast mich verlassen!“. Auf den Hängen des Vulkans Wutaskjöll hört man von Weitem die Hassparolen: „Ich hasse Dich! Ich bring Dich um!“ Selbst auf der Route über die Freudekuppe hört man empörte Schreie: „Das ist doch mein gutes Recht! Das kann ich doch verlangen!“

Diese Schreie auszuhalten und nicht wieder den Abstieg anzutreten, ist nicht einfach. So versichern sich die Seilschaften gegenseitig, diese immer schärfer werdenden Vorwürfe nicht persönlich zu nehmen.

Die Berggeister kommen

Aber es kann noch schwieriger werden, denn in diesen Höhen können Berggeister auftreten: Die Reisenden sehen ihren Vater oder ihre Mutter oder andere Menschen, die ihnen einst übel mitgespielt haben. Sie fühlen sich wieder als das Kind, das so gelitten hat. Sie hatten doch so sehr gehofft, diesem Dasein als wehrloses Kind endgültig entflohen zu sein. Da ist das Erschrecken groß und die kindliche Wut bricht sich Bahn. Jetzt kann man leicht einen Fehltritt machen und wieder den Hang hinunter nach Opfer-City hinabstürzen.

Bergführer helfen über den Pass

Manche Menschen fragen auch nach einem Bergführer aus Gefühlistan. Diese Bergführer kommen einem über die Passhöhe entgegen. Sie helfen den Seilschaften, immer wieder ein Stückchen weiter nach oben zu kommen. Bis sie dann den Berggrat erreichen, wo es dann heißt: „Du tust mir so weh!“, „Du machst mir so Angst!“, „Du hast mich verlassen!“, „Ich hasse Dich!“ oder auf der Freudekuppe: „Das ist doch mein verdammtes gutes Recht! Warum denn nicht gleich so!“

Die Schutzhütten der wertlosen Schätze auf dem Weg aus Fremdschuldistan

An den Passhöhen gibt es Schutzhütten. Wenn die Wanderer aus Opfer-City die Schutzhütten erreichen, sind sie erstaunt. Die Schutzhütten sind angefüllt mit zurückgelassenen Schätzen, die für diejenigen, die den Weg vor ihnen gegangen sind, wertlos geworden sind:

Goldene Fesseln, geschmückt mit unzerstörbaren Vorwurfsbrillianten, für die in Opfer-City ein Vermögen bezahlt würde, liegen in einer Truhe. Die Bewohner von Opfer-City legen diese Fesseln an, um nicht im Rausch des Vorwurfs jemanden „aus Versehen“ umzubringen oder zu verletzen. Reichlich mit Beschuldigungsedelsteinen verzierte Krücken lehnen in einer Ecke. Im Alltag der Bewohner von Opfer-City dienen die Krücken als Statussymbol, um zu zeigen, wie sehr man Opfer der schlimmen Machenschaften der Anderen geworden ist. Edle Schutzbrillen, die die eigenen Augen vor den Gefühlen und Bedürfnissen der anderen abschirmen, werden in Körben gesammelt.

Diese Gegenstände, die in Opfer-City als Schätze gelten, müssen vor dem Überqueren der Passhöhe zurückgelassen werden. Für den Abstieg über die Berge von Gefühlistan bis in die Ebene von Bedürfnien braucht man freie, ungefesselte Beine, um gut balancieren zu können. Die Krücken bleiben zurück, weil man nur mit freien Händen die Hand des Kameraden oder des Bergführers ergreifen kann. Die Schutzbrillen, die für mich die Gefühle und Bedürfnisse meines Gegenübers unsichtbar machen und die zur täglichen Kleidung der Bewohner von Opfer-City gehören, müssen hier abgelegt werden. Sie würden es unmöglich machen, den Weg der Gefühle sehen zu können, der bis in die Ebene von Bedürfnien führt und man würde die Kameraden aus den Augen verlieren und sich hoffnungslos verirren.

Der Abstieg nach Gefühlistan auf dem Weg aus Fremdschuldistan

Wenn sich wieder eine Gruppe von Wanderern auf den Abstieg nach Bedürfnien macht, merken sie, wie der scharfe Wind der Vorwürfe, der sie vor der Passhöhe fast umgeblasen hatte und sie um ein Haar in die Abgründe gestürzt hätte, nun mit jedem Schritt schwächer und weicher wird, bis er ganz zur Ruhe kommt. Die Bergsteiger, die gerade eben noch von Vorwürfen gebeutelt wurden, erleben plötzlich starke Gefühle. Da ist es gut, die Hand eines anderen zu spüren, weil plötzlich Tränen kommen und die Sicht verschwommen wird. Wieder wechseln sie sich mit der Führung ab. Hatte erst der eine Tränen in den Augen und brauchte eine warme Hand auf dem Rücken, so kann dieser dann wieder den Begleiter führen, der nun selbst verschwommenen Blick hat. So tasten sich die Wanderer langsam hinunter.

Die Wanderer, die den Pass beim Vulkan Wutaskjöll gewählt haben, weil sie der Meinung waren, die Wut sei der einzige richtige Weg für sie, bemerken, dass sie auf dem Weg in die Hauptstadt Connexion an den anderen Gefühlen vorbeikommen. Erst staunen sie über die Herden der Wutpferde, danach wandern sie durch die Wälder der Trauerweiden, an den Seen mit den Zitteraalen am Fusse des Mt. Pavor vorbei, durch die Chili-Felder am Piz Schmerz. Dann gelangen sie in die Hauptstadt von Bedürfnien, nach Connexion.

Wer über das Massiv der Hohen Trauern kam, sieht beim Abstieg die Wutpferde auf den benachbarten Berghängen. Aus den Vorwürfen, dass man sie doch immer wieder verlassen habe, wird ein weicheres: „Ich hätte Deine Nähe gebraucht!“. Die Wutpferde werden auf diesen Ruf hin zutraulich und kommen näher. Zuweilen bieten sie sich als Reittiere an.

Der Abstieg vom Mount Pavor ist nicht einfach: Die Angst will gespürt werden. Die Bergsteiger stützen sich gegenseitig, damit sie mutvoll auf die Angst zugehen können. Dann verrät die Angst ihre Herkunft: Sie hat Sicherheit gesucht und nicht gefunden. Mit einer Hand auf dem Rücken beruhigt sich die Anspannung mehr und mehr.

Auch über den Piz Schmerz kommen die Wandergruppen hinunter. Viele haben rot geweinte Augen, weil sie dem Schmerz begegnet sind. Sie erzählen, dass der Schmerz immer wieder zu spüren ist, aber nun wäre es für sie ganz anders: Sie können den Schmerz begrüßen als ein Zeichen, dass sie gut auf sich aufpassen müssen.

Der Weg von Selbstschuldistan nach Gefühlistan

Manche Bewohner von Selbstschuldistan haben auch von dem Land Gefühlistan gehört, das hinter den steilen Bergen liegen soll. Sie dürfen allerdings nicht ihren Arbeitsplatz als Steineträger oder Bademeister verlassen, denn sonst würden Sie ja noch Schuld auf sich laden. „Was tue ich hier? Ich muss doch zurück um zu helfen und zu dienen, das ist meine Bestimmung!“ das sind die Gedanken, die sie zum Umdrehen bewegen. Es braucht es eine gehörige Portion Mut, um sich aus Bad Täterow aufzumachen in die Berge. Von Besuchern aus Gefühlistan, die von der Staatsmacht in Selbstschuldistan wie feindliche Agenten verfolgt werden, haben sie Flugblätter mit Tipps zu Aufstieg erhalten. Wichtig ist ein Mantra, welches sie unablässig murmeln: „Wenn ich damals gewusst hätte, was ich heute weiß, hätte ich es anders gemacht.“ Auf dem Weg nach oben kommen sie an steile Felsen, die ihnen den Weg versperren. „Warum hast du es denn nicht anders gemacht?“ scheint es aus den Felsen zu wispern. So mancher ist an dieser Stelle schon schuldbewusst und reumütig zurückgekehrt in seinen Dienst als Steineträger oder Bademeister. Wer das ganze Flugblatt gelesen hat, kennt eine Möglichkeit, die Felsen der Selbstvorwürfe zu überwinden: „Wenn ich damals gewusst hätte, was ich heute weiß, und ich damals die inneren und äußeren Entscheidungsmöglichkeiten gehabt hätte, hätte ich es gerne anders gemacht!“ Oft reicht es nicht, sich diesen Satz selbst vorzusprechen. Deshalb ist es auch dieser Seite der Berge, wichtig, gemeinsam zu gehen. Ein Begleiter sagt den Aufstiegssatz seinem Kameraden immer wieder, damit seine innere Stimme nicht übermächtig wird und er umkehrt. So erreichen sie dann die Grenzlinie auf dem Gebirgskamm.

Die Schutzhütten der wertlosen Schätze auf dem Weg aus Selbstschuldistan

Auch die Wanderer aus Selbstschuldistan finden auf der Passhöhe Schutzhütten vor. Sie sind angefüllt mit Eselsmützen, die die Bewohner von Selbstschuldistan als Statussymbol tragen. Auch Büßermäntel liegen auf einem großen Haufen. Und in einer anderen Ecke liegen die Peitschen, mit denen sie sich zuhause noch selbst kasteit hatten, um ihre Schuldgefühle einzudämmen. All das können sie auf der Passhöhe ablegen, aber der Preis ist hoch. Denn nun sind sie den Gefühlen von Schmerz, Angst, Trauer, Wut ausgesetzt, die vorher hinter den Schuldgefühlen verborgen waren.

Der Abstieg nach Gefühlistan auf dem Weg aus Selbstschuldistan

Der Abstieg nach Gefühlistan von Selbstschuldistan kommend erfordert ein großes, weites Herz. Es gilt nun, sich für Angst, Schmerz, Trauer und auch Wut zu öffnen: Mit jedem Schritt wird der Blick auf die Bedürfnis-Hügel in der Ebene von Bedürfnien deutlicher. Allein der Anblick der Hügel und Felsengruppen der Nicht-erfüllten-Bedürfnisse schmerzt, ängstigt, lässt Traurigkeit aufsteigen oder Wut aufkochen. Je weiter die Menschen hinabsteigen, um so besser können sie unterscheiden: Unerfüllte Bedürfnisse gab es nicht nur bei ihren Mitmenschen, sondern auch bei ihnen selbst. Und sie haben so lange dazu beigetragen, dass sie nicht erfüllt wurden, weder bei sich selbst noch bei ihren Mitmenschen. Was für ein Jammer! Auch hier ist eine warme Hand auf dem Rücken oder eine stärkende Hand eines Wegbegleiters hilfreich und erleichternd.

Der Abstieg von der Freudekuppe nach Gefühlistan

Die Wanderer, die über die Freudekuppe kommen, haben wohl den schönsten Abstieg, egal, ob sie aus Fremdschuldistan oder Selbstschuldistan aufgestiegen sind. Immer wieder bleiben sie gerührt über die geschenkten wunderbaren Ausblicke und die reizenden Blumenwiesen mit wahren Blütenteppichen stehen. Die Dankbarkeit weitet ihr verkrampftes Herz, so dass es schon fast weh tut.

Die Ebene von Bedürfnien und die Ankunft in Connexion

Nun werden die Wege flacher und die Wanderer erreichen die Ebene von Bedürfnien. Bald kommt auch der See und die Hauptstadt Connexion in Sicht. Die Bewohner von Connexion kommen den Wanderern entgegen und bringen ihnen Erfrischungen und Spezialitäten aus Connexion. Die letzte Etappe in die Stadt Connexion hinein gleicht einem fröhlichen Ausflug, dem sich immer mehr anschließen. In einem Fest auf dem Marktplatz von Connexion findet der Abstieg ein Ende. Die Neuen Bewohner von Connexion werden gerne aufgenommen und sie bekommen Hilfe, sich ihre eigene, neue Existenz in Bedürfnien aufzubauen.

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