Mein Vater hält mich

Es ist ein herrlicher Sonntag, ich biege mit dem Auto auf einen Parkplatz vor einem Café ein. Ich parke neben einem Familienauto ein. An der offenen Heckklappe steht ein Vater mit einem 2-jährigen Kind auf dem Arm. Vor ihm steht ein Junge, etwa 5 bis 6 Jahre alt. Er weint und schreit mit hochrotem Kopf. Als ich einparke, höre ich wie der Vater sagt: „Hör auf zu weinen, ich verstehe Dich nicht.“ Der Junge schreit und weint weiter. Beim Aussteigen höre ich den Vater sagen: „Hör auf zu weinen, ich kann dich nicht verstehen.“ Keine Veränderung beim Jungen. Ich werde schon neugierig, wie das wohl weitergehen wird. Langsam hole ich noch etwas aus dem Kofferraum, um ja nichts von dem zu versäumen, was da neben mir passiert. Das sagt der Vater zum dritten Mal: „Hör auf zu weinen, ich kann dich nicht verstehen.“ Der Junge schreit und weint weiter.

Viele von uns können erzählen, wie die Geschichte in ihrem Leben weitergegangen wäre: „Hör auf, oder ich nehme Dich nie wieder auf einen Ausflug mit!“, „Sei still, was sollen denn die Leute von Dir (und mir) denken!“, „Wenn Du nicht aufhörst, dann sperre ich Dich ins Auto!“, „Ich fahre gleich ohne Dich weiter!“ bis hin zu „Ich scheuer Dir eine, damit Du weißt, warum Du weinst!“.

Was ich dann erlebe, berührt mein Herz: Der Vater mit dem 2-Jährigen geht in die Hocke, geht auf Augenhöhe mit dem wütenden Kind und sagt: „Du bist ja so wütend!“ und weiter „So arg wütend bist Du!“ und weiter bis „Du hast ja einen richtigen Wutanfall!“. Dabei bleibt er selbst ruhig und freundlich zugewandt. Immer wieder gibt er dem Gefühl des Kindes einen Namen und einen Raum. Langsam schließe ich den Kofferraum und gehe davon. Der Vater bleibt auf Augenhöhe und gibt dem Gefühl des Kindes immer wieder einen Namen: Wut. Und er „hält“ das Kind mit seiner freundlichen Aufmerksamkeit. So geht das noch 2 Minuten. Dann biegt die Mutter um die Ecke. Der Junge läuft auf sie zu, läuft in Ihre Arme und an ihrer Schulter wird er ruhig.

Der Junge hat gelernt, dass er wütend sein darf und dass er in seiner Wut „gehostet“ ist. „Host“ ist das englische Wort für Gastgeber. Der Vater war ein guter Gastgeber für den Jungen mit seiner Wut. Für den Jungen war das eine wichtige Lektion, aufrecht wütend zu sein, zu einer „aufrechten Wut“, die sich nicht gegen mich oder Dich richtet.

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