Die geerbte Angst

Eine Frau lebt in einer Reihenhaussiedlung. Der Nachbar beschwert sich immer wieder, wenn die Tochter einmal laut ist. Nicht nur bei Ihr, sondern bei der Siedlungsgenossenschaft. Da der Nachbar Kontakte in den Vorstand hat, kommt auch bald offizielle Post. Die Frau fühlte sich schon vorher unsicher, nun hat sie Angst, raus in ihren Garten zu gehen, sie könnte dem Nachbarn begegnen. Die Frau nimmt sich einen Rechtsbeistand, der sie über ihre realen Rechte aufklärt. Ein klärendes Gespräch zwischen Nachbar, Vorstand und der Frau mit einem Rechtsbeistand schafft Klärung und auch etwas Ruhe.

Die Gefühle aber bleiben. Eine unbestimmte Angst, die sich nirgendwo richtig festmachen lässt.

Da fällt ihr ihre Mutter ein und ihre Großmutter. Die Großmutter war mit einem überzeugten Kommunisten verheiratet. Die Mutter 1933 wird ins Nazi-Deutschland hineingeboren. Der Großvater verstirbt plötzlich. Am nächsten Tag steht die Gestapo vor der Türe und wollte den Mann ins KZ abholen. Großmutter und Mutter überleben gemeinsam. Immer auf der Hut, immer in Angst. Auch nach dem Krieg bleibt die Angst: Uns wird der Strom geklaut, wir werden abgehört. In diesem Klima wächst die Frau, von der ich schreibe, auf. Ihren eigenen Vater hat sie nur drei Mal kurz gesehen. Sie lebt mit im Angst-Kokon von Großmutter und Mutter. Sie erbt auch die Angst vor der Welt da draußen. Die Frau besucht die Schule, studiert, unterrichtet Studenten. Da ist alles noch ganz okay. Durch ihren großen Einsatz für andere bekommt sie gute Rückmeldungen und viel Lob. So hält sie sich die Angst vor der Welt vom Leibe.

Als sie in Rente geht, kann sie nicht mehr durch Leistung und Lob von der Angst freikaufen. Die kindliche Angst taucht wieder auf. Der Nachbar wird nun der „aktuelle Stellvertreter“ für die Gestapo der Großmutter. So hat sie die Angst geerbt.

Was können wir machen?

Wir werden uns auf die Suche machen nach dem kleinen Mädchen in ihr, das in der Angstwelt der Mutter und Großmutter aufgewachsen ist. Wenn die erwachsene Frau von heute Angst hat, dann öffnet sich die Tür zum Zeittunnel, auf dessen anderer Seite das kleine das kleine Mädchen von damals mit seiner Angst wohnt. Jetzt kann sie das Mädchen von damals sehen und es in seiner Angst halten und anerkennen.

So bekommt die Angst von heute die Potenz für Heilung der Vergangenheit.

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